Die vollständigen Werke Menno Simons

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3.3 Von der Zeit der Gnaden

Zum Ersten lehren wir, was Christus Jesus, der Lehrer vom Himmel, der Mund und das Wort des allerhöchsten Gottes, selbst gelehrt hat (Joh 3,2), nämlich, dass nun eine Zeit der Gnade sei, eine Zeit aufzuwachen von dem Schlaf unserer gräulichen Sünden (Röm 13,11) und ein aufrichtiges, umgekehrtes, erneuertes, zerbrochenes und reuiges Herz zu erlangen; unseren vergangenen ruchlosen, mutwilligen Wandel aus Grund unserer Seelen vor Gott zu beklagen; in aller Furcht Gottes unser böses, sündhaftes Fleisch, Art und Natur zu kreuzigen und zu töten und mit Christus aufzuerstehen in einem neuen, gerechten und bußfertigen Leben und Wesen (Eph 4,22; Gal 5,24). Gleichwie Christus spricht:

»Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbei gekommen, tut Buße und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15)

Die Zeit ist erfüllt, d. h. die verheißene Gnadenzeit naht; die Zeit der Erlösung, die Zeit des Opfers, durch welches befriedigt werden sollte, alles was im Himmel und auf Erden ist (1Mose 3,15; Kol 1,19); die Zeit der Erfüllung aller buchstäblichen, bildlichen Unterhandlungen in ein neues geistliches Wesen und bleibende Wahrheit. Die Zeit, auf welche die Väter gehofft und die sie mit vielen Tränen begehrt haben, nämlich Jakob, Mose, Jesaja, David, Daniel, so auch alle Patriarchen, Väter und Propheten, die diese Zeit durch den Glauben von ferne gesehen, auf sie gehofft und sich auf dieselbe vertröstet haben (Hebr 11,23) – ja sie ist denselben ein so hoher und freudiger Trost gewesen, dass der gute, alte Simeon nicht länger zu leben begehrte, als er diese Zeit erkannt und den Seligmacher gesehen hatte, sondern sprach:

»Herr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern.« (Lk 2,29–31)

Die Zeit ist erfüllt, die Weissagungen der Propheten und die Verheißungen der Väter treten in ihre volle Kraft. Der geschworene Eid ist geleistet und vollbracht, Israel hat seinen König David, Prinzen und Fürsten empfangen, der sich als ein Held, Gigant und Riese aufgemacht hat zu bereiten seinen Lauf (Ps 2,7; Jes 9,5; Jer 30,9). Sein Ausgang ist von dem hohen Himmel; der Gesalbte ist gekommen, der von allen Völkern begehrt worden ist; seine Lenden umgürtet mit dem Schwert des Geistes, ritterlich zum Streit bereit (Mi 5; Hag 2; Jes 24).

Er hat verkündigt das Evangelium des Reichs, das Wort seines Vaters, hat den Seinen ein Vorbild der reinen Liebe und eines unsträflichen Lebens gelehrt und nachgelassen (Mt 4,17; Joh 7,14–15); die Starken überwunden, des Teufels Kraft und Gewalt zerstört; unsere Sünden getragen, den Tod vernichtet, den Vater versöhnt; Gnade, Gunst, Barmherzigkeit, das ewige Leben, Reich und Frieden allen auserwählten Kindern Gottes erworben und verdient (Hebr 2; 1Pt 2; 1Kor 15) und ist so von seinem ewigen und allmächtigen Vater eingesetzt als ein allmächtiger, gewaltiger König über den heiligen Berg Zion, als ein Haupt der Gemeinde, als ein Versorger und Austeiler der himmlischen Güter; ja, als ein mächtiger Gewalthaber über alles im Himmel und auf Erden (Jes 2; Eph 2); und deshalb ist es, dass Christus spricht:

»Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen.« (Mk 1,15)

Ich ermahne euch mit dem heiligen Paulus, aus mitleidigem, getreuem Herzen, dass ihr doch diese Zeit der Gnade wahrnehmt und eine gute Achtung auf des Herrn Wort habt, das da sagt:

»Ich habe euch in der angenehmen Zeit erhört und an dem Tag der Seligkeit habe ich euch geholfen. Nehmt wahr, jetzt ist die angenehme Zeit, nun ist der Tag der Seligkeit.« (2Kor 6,2)

»Lasst uns nun (spricht Paulus) niemand ein Ärgernis geben, auf dass unser Dienst nicht verlästert werde; sondern lasst uns in allen Dingen beweisen als Diener Gottes; mit viel Geduld, mit Trübsal, mit Angst, mit Schlägen, mit Gefängnis, mit Aufruhr (verstehe, der über uns geschieht), mit Arbeit, mit Wachen, mit Fasten, mit Keuschheit, mit Erkenntnis, mit Langmütigkeit, mit Freundlichkeit, mit dem heiligen Geist, mit ungefärbter Liebe, mit dem Wort der Wahrheit, mit der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit, zur rechten und zur linken Hand; durch Preis und Schmach; durch böses Gerücht und gutes Gerücht; als die Verführer, und doch wahrhaftig; als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe wir leben; als die Geschlagenen, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles besitzen.« (2Kor 6,3–10)

O ihr lieben Herren, Freunde und Brüder, mein Mund hat sich gegen euch aufgetan; mein Herz hat sich über euch ausgebreitet; um euretwillen bin ich sehr betrübt, dass ihr so ganz unachtsam seid und nicht einmal aufmerkt, von welchem Volk diese klaren, deutlichen Schriften sprechen, dass ihr des Herrn Wort so ganz und gar verachtet und die edle, köstliche Zeit der Gnaden, die euch und uns allen zur Besserung von Gott gegeben ist, so schändlich hinweg schleichen lasst und auf nichts anderes achtet als mit ganzem Herzen zu leben nach den unreinen gottlosen Lüsten eures Fleisches und eure Knie zu beugen vor den stummen Abgöttern. Ach, es wäre wohl Zeit aufzuwachen; bedenkt doch, dass der Engel in Offb 10,6 bei dem ewigen und lebendigen Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, geschworen hat, dass nach dieser Zeit keine Zeit mehr sein soll. Man kann nicht anders aus der Schrift merken und verstehen, denn dass dieses Fest das letzte des Jahres ist; die letzte Verkündigung des heiligen Evangeliums; die letzte Berufung zu der Hochzeit des Lammes, die noch vor dem großen, schrecklichen Tag des Herrn gefeiert, gepredigt und geheiligt werden muss. Daraus können wir wahrnehmen, dass der Sommer vorüber geht und der Winter kommen werde. Die nun ihre Lampen mit den törichten Jungfrauen nicht bereiten, die werden zu spät kommen, vergebens anklopfen und außerhalb der Türe bleiben (Mt 25,11). Darum tröstet euch untereinander nicht mit einem unnützen Trost und einer unsicheren Hoffnung, gleich wie etliche tun, die da meinen, dass das Wort noch ohne Kreuz sollte gelehrt und belebt werden. Ich meine die, welche des Herrn Wort erkennen, aber nicht danach leben. O nein! Es ist das Wort des Kreuzes, es wird es auch nach meiner Meinung wohl bleiben bis zum Ende, denn es will mit vielem Leiden bewährt und mit dem Blut versiegelt sein. Das Lamm ist geschlachtet vom Anfang der Welt (Offb 13,8); ja, er hat nicht allein in seinem Körper gelitten, sondern er hat auch durch Kreuz und Tod seine Herrlichkeit müssen einnehmen, die er eine Zeit lang um unseretwillen verlassen hatte (Lk 24; Joh 11,25). Hat nun das Haupt selbst alle solche Marter, Pein, Elend und Schmerzen leiden müssen, wie wollen denn seine Diener, Kinder und Gliedmaßen hier Friede und Freiheit in dem Fleisch erwarten; haben sie den Vater des Hauses Beelzebub geheißen, warum denn auch nicht seine Hausgenossen (Mt 10,25)?

»Alle, die gottselig leben wollen in Christo Jesu (spricht Paulus), die müssen Verfolgung leiden.« (2Tim 3,12)

»Ihr werdet gehasst werden (spricht Christus) von allen Menschen, um meines Namens willen.« (Mt 10,22)

Darum reißt die schändlichen Gedanken aus euren Herzen, damit ihr auf eine andere Zeit hoffen dürft und nicht durch eure falsche Hoffnung betrogen werdet; denn ich habe wohl etliche gekannt, die auf eine freie Zeit hofften, doch sie lebten so lange nicht, um sie erlangt zu haben. Ja, hätten die Apostel und Väter darauf gewartet, so würde das Evangelium des Reichs bisher geschwiegen haben und des Herrn Wort unbekannt geblieben sein.

Ach, wärt ihr Christen und ein Volk Gottes, wie ihr euch zu sein rühmt, ihr würdet mit dem heiligen Paulus sagen können:

»Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?« (Röm 8,35)

Denn dann wären Fleisch, Teufel, Sünde, Hölle, Tod alle überwunden und es würde kein Verlangen mehr sein, lang in dieser verderbten, argen, blutgierigen Welt zu verbleiben; auch würdet ihr euch keines andern rühmen, als nur des Kreuzes Christi (Gal 6,14) und mit Paulus von ganzem Herzen begehren, von dieser Hütte erlöst zu werden und mit Christus zu leben (Phil 1,23).

Ich wünsche von Herzen, dass ihr aufwachen und nicht auf eine andere Zeit hoffen oder warten möchtet. Will uns aber der gnädige Vater etwas Freiheit und Friede geben, so wollen wir dieselben gern in aller Dankbarkeit von seiner Gnadenhand empfangen; will er aber nicht, so muss und soll dennoch sein großer Name gelobt werden ewiglich.

Wir alle haben die angenehme Zeit der Gnaden erlangt, denn der Tag der Seligkeit ist hier (Jes 49,8); lasst uns nun dem undankbaren, ungehorsamen, blutsaugenden Jerusalem nicht gleich sein (Lk 19), das den göttlichen Frieden, die himmlische Gnade und die barmherzige Heimsuchung mit so verkehrtem Sinn von sich stieß, sondern lasst uns aufwachen mit nüchternen Herzen, damit wir die rufende Stimme hören und aufstehen in dieser angenehmen Zeit von dem tiefen Schlaf unsrer abscheulichen und widerwärtigen Sünden, denn der Herr ist nahe.

»Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbei gekommen; so lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrbahr wandeln, wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammer und Unzucht, nicht in Hader und Neid; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und wartet des Leibes, doch so, dass er nicht geil werde.« (Röm 13,12–14)

Ein jeglicher sehe sich vor und schlafe nicht, er benutze wachsam die Zeit, welche ihm von Gott aus Gnaden zur Besserung vergönnt und gegeben ist. Ecce nunc tempus acceptum, ecce nunc dies salutis.

»Seht, jetzt ist die angenehme Zeit; jetzt ist der Tag des Heils!« (2Kor 6,2)